23.10.19 Jerusalem: Ölberg, Dominus flevit, Gethsemane, Altstadt

Heute geht es per Bus als erstes hinauf auf den Ölberg. Unterwegs begegnen uns viele Kinder und Jugendliche auf dem Schulweg, Väter und Mütter mit ihren Kleinen, vielleicht auf dem Weg zum Kindergarten.
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Eine Entwicklung, die die eher säkularen Israelis nicht gerade erfreut. Nicht nur dass die Ultraorthodoxen vom ansonsten für alle verpflichtenden Wehrdienst traditionell befreit sind, bzw. sich befreien lassen können. Oder dass ca. 60 - 70 Prozent der ultraorthodoxen Männer keiner beruflichen Tätigkeit nachgehen, sondern ein Leben lang an einer Jeschiwa, einer Toraschule, die Heilige Schrift studieren.
Auch politisch verschiebt sich das Bild durch die wachsende Zahl ultraorthodoxer Wähler*innen immer stärker zum extrem Konservativen hin. Wobei einschränkend zu sagen ist, dass ein guter Teil der Ultraorthodoxen gar nicht wählen geht, da sie den Staat Israel ablehnen. Israel wieder aufzurichten gebührt nach ihrer Auffassung allein dem Messias.
Auf dem Ölberg angekommen, bewundern wir, wie sicherlich die meisten Jerusalem-Tourist*innen und Pilger*innen, erst einmal das berühmte Stadtpanorama.
Unser Guide Nathan Landau erläutert uns das, was er die "spirituelle Geographie" des Ölbergs nennt:
Der Ölberg bildet die Grenze zwischen der Stadt in ihren Mauern, dem Kidrontal und dem Hinnomtal (Ge-Hinnom, oder gräzisiert: Gehenna) auf der einen Seite und der judäischen Wüste auf der anderen. Vor allem in Zeiten, in denen sich die religiösen Institutionen der Stadt als korrupt und unglaubwürdig erwiesen, zog es spirituell Suchende, die sich nach echter Gotteserfahrung sehnten, in die Wüste. So z.B. auch Johannes den Täufer oder eben Jesus.
Zu Fuss gehen wir den Ölberg hinab und besuchen die kleine Franziskanerkirche "Dominus flevit" (der Herr weint). Jesus weint über Jerusalem (Lukas , 19, 41-44).
Hier in der liebevoll angelegten Gartenanlage ist eine alte Begräbnishöhle zu sehen, bestückt mit relativ kleinen Terracottakästen. Bei dieser Begräbnisart wurde, so erklärt uns Nathan, der Leichnam zunächst in einer Art Regal bestattet, bis nach ca. 1 Jahr nur noch Knochen übrig gewesen seien. Diese seien dann in diesen Kästen dauerhaft bestattet worden. Die biblische Redewendung "und er wurde versammelt zu seinen Vätern" (z.B. Genesis 25, 17) wird so anschaulicher, als manchem lieb sein mag.
Apropos Bestattung: Auf dem Ölberg befindet sich ein riesengrosser jüdischer Friedhof. Wer sich hier begraben lässt, möchte sofort zur Stelle sein, wenn der Messias endlich erscheint. Wird dieser doch, so verheißen es die Worte der Propheten, vom Ölberg herkommend, in Jerusalem einziehen.
Erwartet wird, dass der Messias die Stadt durch das Goldene Tor betreten wird, denn dieses Tor führt direkt auf den Tempelberg. Es ist damit auch das Tor, durch das einst, als der Tempel noch stand und dort noch geopfert wurde, der Sündenbock am großen Versöhnungstag hinausgetrieben wurde. Seit dem 16. Jahrhundert ist dieses Tor verschlossen. Die Osmanen haben es zugemauert.
Am Fuss des Ölbergs gehen wir in den Garten Gethsemane. Hier rang Jesus unmittelbar vor seiner Verhaftung mit Gott und bat ihn, seinen Vater, dass dieser Kelch doch an ihm vorübergehen möge. "Aber nicht mein Wille, sondern Dein Wille geschehe". Ich stelle mir vor, wie Jesus allein, abseits von seinen Jüngern in der Dunkelheit unter einem der alten Ölbäume hier gekniet hat.
Zur Anlage des Garten Gethsemane gehört auch die Kirche der Nationen. Erbaut als Friedensprojekt nach dem 1. Weltkrieg. Als wir die Kirche betreten, feiert dort eine deutschsprachige Gruppe gerade eine Messe. "Bleibet hier und wachet mit mir. Wachet und betet!" Leise singe ich beim Hineingehen mit und setzte mich in eine Bank. Der Priester liest die Geschichte von Jesu Verhaftung.
Ein kleiner heiliger Moment.
Vom Ölberg aus fahren wir zur Anlage des sogenannten Gartengrabs. Bei archäologischen Grabungen ist hier eine Grabanlage aus der Zeit Jesu entdeckt worden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich nicht um das authentische Grab Jesu. Allerdings zeigt diese Anlage, wie man sich die Szenerie vorstellen kann. Auch wenn der freundliche Ehrenamtliche, der uns die Anlage zeigt, sich alle Mühe gibt, uns nahezubringen, dass es vielleicht doch der authentische Ort ist...
Aber, wie es auch sei: Die sehr harmonische und friedliche Atmosphäre des Gartens lädt ein zu Meditation und Gebet. Ein Ort der Ruhe. Was gut tut nach einem anstrengenden Morgen.
Wir feiern hier im Garten zusammen Abendmahl. "Nun gehören unsre Herzen ganz dem Mann von Golgatha", singen wir zum Abschluss. Ein tröstliches und zugleich zur Hoffnug motivierende Lied. Das einzige Karfreitagslied, das mir wirklich etwas bedeutet. Ich finde, es passt sehr gut zu diesem Ort.
Vom Gartengrab aus geht es zur Altstadt durch das Damaskustor Richtung Via Dolorosa. An insgesamt 14 Stationen wird hier an den Leidesweg Jesu erinnert.
Was für ein verrückter Ort! Einerseits alle paar Meter eine Kapelle oder eine Statue, die zu stiller Meditation und Gebet einladen soll. Andererseits drängeln sich rechts und links in der engen Gasse Lädchen und Verkaufsstände, entfaltet sich eine typische Suk-Atmosphäre.
Angeboten werden Waren aller Art: Baklava, Olivenholzschnitzereien, absurder Plastikplunder, frischgepresster Granatapfelsaft, Tücher und kitsch-as-kitsch-can-Devotionalien. Wie zum Beispiel diese elektrisch beleuchteten phosphorisierenden Madonnen. Die rechte wechsle sogar ihre Farbe, so preist sie mir der junge Händler geschäftstüchtig an. Na, dann....
Am Zielpunkt der Via Dolorosa verdichtet sich das Gedränge noch einmal: An der Grabeskirche.
Sechs Denominationen haben hier ihren jeweils eigenen Bereich. Nicht gerade konfliktfrei haben die unterschiedlichen Konfessionen hier über die Jahrhunderte versucht miteinander klar zu kommen. Den Schlüssel für die Grabeskirche haben - aus guten Gründen - seit langem zwei musimische Familien.
Dass Frieden manchmal ungewöhnliche Symbole aufweisen kann, zeigt eine Leiter auf einem Balkon der Kirche. Die Geschichte der verrückt-unverrückten Leiter kann hier nachgelesen werden:
Die Argumente dafür, dass hier in der Grabeskirche der geographisch authentische Ort von Kreuzigung und Grablegung sein könnte, mögen noch so schlüssig sein: Die Calvinistin in mir sehnt sich nach einer hell getünchten bilderlosen Kirche. Nach Klarheit und Ruhe, die hier niergends zu finden ist.
Oder vielleicht doch?
Silke zeigt uns eine kleinen Nische.
Eine kleine Höhle,
abseits vom Trubel.
Die auch zur alten Grabanlage gehört haben mag.
Um diese kleine Höhle zu betreten, muss man sich ganz klein machen.
Im Inneren brennen nur ein paar schmale, bescheidene Kerzen.
Viel Zeit bleibt nicht, diesen Moment in der Höhle auszukosten.
Aber er genügt mir.
Unerwartet intensiv ergreift mich eine tiefe Ehrfurcht.
Jeschuah,
geliebter Lehrer,
Rabbuni
mein Meister.
Tot und kalt.
Der Fürst des Friedens.
Zu Tode gefoltert.
Begraben in einem finsteren Loch.
Zwischen Karfreitag und Ostern liegt der Karsamstag.
Und will ausgehalten sein.
Beim Verlassen der Grabeskirche beobachte ich, wie vor allem Frauen aus aller Herren Länder, voller Hingabe kniend vor dem Stein beten, auf dem der Leichnam Jesu gesalbt und für die Bestattung vorbereitet worden sein soll. Nicht wenige reiben mit Tüchern oder mit Gegenständen, wie Kreuzanhängern, Medallions oder Rosenkränzen über die glatte Oberfläche. Sorgfältig werden die derart "aufgeladenen" Dinge schließlich verpackt. All das geschieht offenbar in der Hoffnung, regelrecht stofflich noch etwas aufnehmen und mitnehmen zu können von diesem heiligen Ort. Vielleicht, um es jemandem zu schenken, der selbst nicht hierher pilgern kann.
Ich beobachte das Geschehen und merke, wie sich meine Skepsis wieder meldet und meine innere Abwehr. Einerseits.
Andererseits: War ich nicht eben auch mit einem Mal ergriffen? Trotz meiner distanzierten Grundeinstellung, was religiösen Rummel betrifft? Was weiss ich schon - wie weit reichen meine gegrenzten Möglichkeiten um, das was hier an diesem Ort geschehnen sein soll zu erfassen und zu glauben?
Und auch das ist wahr:
Die innige Hingabe der Betenden rührt mich.
Was mögen die, die dort knien auf dem Herzen haben?
Die Luft ist zum Schneiden.
Sie riecht nach Weihrauch und nach Schweiß.
Wir verlassen die Kirche.
Und atmen tief durch.
Was für eine Wohltat, endlich wieder im Freien zu sein!
Wir
gehen weiter zum Cardo im jüdischen Viertel. Hier zeigt uns Nathan die
Ausgrabung von Mauerresten aus der Regierungszeit von König Hiskia.
Wieder
einmal erleben wir einen Punkt, wo biblische Texte und archäologische
Befunde unglaublich präzise aufeinander bezogen werden können. Was für
ein Buch, die Bibel!
Die Steine dieser Stadt und die Buchstaben der Heiligen Schrift: Wie unglaublich eng sind sie miteinander verbunden!
Zum
Abschluss unseres Tagesprogramms kommt dann der Moment, auf den ich
persönlich am meisten gespannt war: Die Klagemauer oder HaKotel (die
Mauer).
Auch hier wird gebetet.
Ebenfalls mit Hingabe und großer Ernsthaftigkeit.
Frauen
und Männer tun dies getrennt. Bei aller eingangs erwähnten Besorgnis ob
des Erstarken der Ultrareligiösen, der Charidim: Die betenden Frauen
und Mädchen machen einen starken Eindruck auf mich.
Ich
verspüre einen unerwartet intensiven, innigen Wunsch, auch hier zu
beten. Auch die Mauer zu berühren. Mich an diesem Ort bewusst zu verbinden mit Gottes grosser Geschichte. Der
Geschichte mit seinem Volk, dass er sich erwählt hat zum Segen für alle
Völker. Es ist eine manchmal sehr verworrene Geschichte. Voller Schuld
und Leid. Eine Geschichte grosser Hoffnung. Seit Jahrtausenden wird sie
wach gehalten. Die Hoffung , dass am
Ende alles gut werden wird. Weil einer kommen wird, der zu-Recht bringen
wird, was
jetzt noch so verkehrt läuft.
Ich
gehe zur Mauer. Stelle mich neben die betenden Frauen. Betrachte die
mörtelartig in die Mauerritzen gestopften unzählingen Gebetszettel.
Ich lege meine
rechte Hand auf die Mauer.
Und bete.
Ich berühre
und fühle mich
berührt.
Vielleicht
ticke ich gar nicht so viel anders als die Frauen aus der Grabeskirche?
Vielleicht brauchen wir alle von Zeit zu Zeit etwas zum Anfassen,
etwas Greifbares, einen Moment des Be-Greifens?
Ich bete....
und es betet mich..
"Wünschet Jerusalem Glück!
Es möge wohl gehen, denen die dich lieben!
Es möge Friede sein in Deinen Mauern und Glück in Deinen Palästen!
Um meiner Brüder und Schwestern und Freunde willen will ich Dir Frieden wünschen.
Um des Hauses Adonais willen,
unseres Gottes
will ich dein Bestes suchen".
Psalm 122, 6 - 9
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